Die Bäume rauschen, irgendwo blühen wilde Kräuter, am Rand hebt sich das Kopfsteinpflaster – die Wurzeln darunter haben Kraft genug, jahrzehntealte Steine zu verschieben. Die meisten würden sagen: „Schönes Wetter heute.“ Doch was, wenn diese Pflanzen gerade aktiv handeln? Was, wenn sie nicht nur Kulisse, sondern Mitspielerinnen in einer Welt sind, die wir für selbstverständlich halten – und deren Regeln sie leise mitgestalten? Genau hier setzt Menschen-Pflanzen-Netzwerke an. Der Band fordert uns heraus, nicht länger in Kategorien wie „Mensch“ und „Natur“ zu denken, sondern in einem Geflecht von Beziehungen, in dem eine Eiche, ein Moos oder eine Alge ebenso viel Handlungsmacht besitzen kann wie eine Politikerin, ein Bagger oder ein Smartphone.
Latours Vermächtnis im Blätterdach
Theoretische Grundlage ist Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Sie schlägt vor, alle Akteure – ob Mensch, Pflanze, Maschine oder Molekül – als gleichwertige Teilnehmer eines Netzwerks zu betrachten. Handlungsmacht („agency“) ist dabei kein exklusives Privileg des Menschen.
Übertragen auf Pflanzen bedeutet das: Sie sind keine stummen Hintergründe, sondern aktive Kräfte. Sie verändern Mikroklimate, locken Bestäuber an, verdrängen Konkurrenten, binden oder setzen CO₂ frei. Ihre „Entscheidungen“ – bewusst oder unbewusst – formen unsere Lebenswelt ebenso wie unsere Politik und Wirtschaft.
Was ist „vegetabile agency“ – und warum ist das wichtig?
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Pflanzen, Veränderungen zu bewirken – in Ökosystemen, in menschlichen Gesellschaften, in Symbolsystemen. Das kann physisch sein (etwa, wenn Baumwurzeln Beton sprengen), ökologisch (die Bindung von Nährstoffen im Boden) oder kulturell (die politische Symbolkraft von Bäumen in Protestbewegungen).
Das Buch Menschen-Pflanzen-Netzwerke fragt auch: Wie werden diese Kräfte dargestellt? Wer erzählt die Geschichten – und mit welchen Absichten? Welche Hierarchien werden dabei stabilisiert oder infrage gestellt?
Eine Ethik jenseits des Anthropozentrismus
Viele Autor*innen dieses Ausnahmewerks plädieren dafür, das Verhältnis zu Pflanzen auf Fürsorge („care“) und Gegenseitigkeit zu gründen und nicht bloß auf deren wirtschaftliche Verwertbarkeit für uns Menschen. Das heißt: nicht nur Nutzen ziehen, sondern auch Bedingungen schaffen, unter denen pflanzliches Leben gedeihen kann. Was jedoch im Endeffekt selbst wiederum einen Nutzen für uns Menschen nach sich zieht.
Dieser geradezu elementare Perspektivwechsel ist nicht nur moralisch, sondern auch pragmatisch: Ohne gesunde Pflanzenwelt gibt es keine gesunde Menschenwelt. Und ohne die Anerkennung pflanzlicher Handlungsmacht bleiben unsere Klimastrategien alle zusammen nur eine halbe Sache – wenn überhaupt.
Global gedacht, lokal gewachsen
Besonders spannend an diesem Ausnahmewerk sind vor allem, dass sich die theoretischen Überlegungen ganz leicht auf lokale Kontexte anwenden lassen. Auch in Österreich – ob in urbanen Gärten, in der Landwirtschaft oder in Naturschutzprojekten – zeigt sich, wie eng unsere Lebensqualität mit dem Wohlergehen der Pflanzenwelt verknüpft ist.
Pflanzen sind nicht einfach so „dabei“ – sie sind Mitgestalterinnen der Landschaft, der Infrastruktur und sogar unseres Alltagsrhythmus.
Ein Buch, das Wurzeln schlägt
Menschen-Pflanzen-Netzwerke ist weit mehr als ein akademischer Diskursband. Er ist eine Einladung, das eigene Weltbild zu verschieben. Die Essays bieten theoretische Schärfe, historische Tiefe und kreative Experimente, die unseren Alltag auf eine höhere Ebene heben können.
Wer das Buch liest, wird danach nicht mehr achtlos an einer Brennnessel vorbeigehen – und vielleicht beginnen, in jedem Baum, jeder Blüte eine potenzielle Mitautorin der eigenen Geschichte zu sehen.
In einer Zeit, in der die Klimakatastrophe oft als reine Technikfrage diskutiert wird, erinnert uns dieser Band daran: Die Lösung liegt nicht nur in mehr Ingenieurskunst, sondern auch in mehr Zuhören – vor allem gegenüber den leisen, grünen Stimmen um uns herum. Die Rettung der Welt wird mit Sicherheit keine technologische, sondern eine biologisch sein. Und das nicht in Form eines experimentellen Eingreifens des Menschen in die Natur! Aber vielmehr eine der Kooperation und stillen Komplizenschaft.
Titelbild © Declan Sun via Unsplash (Zugriff 31.08.2025)