The Human and the Meat – Warum Chiara Stefanoni unser Verhältnis zu Tieren und Kapitalismus endgültig auseinandernimmt

Chiara Stefanoni

Manchmal liest man ein Buch und merkt: Okay, jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Genau so ein Werk legt Chiara Stefanoni mit “The Human and the Meat – Animal Domination in Capitalist Societies” vor. Ein theoretisches Monster, ein intellektueller Roadtrip durch Ökonomie, Kultur, Macht und Moral. Gleichzeitig aber auch eine radikale, äußerst präzise Abrechnung mit der Art, wie wir Tiere in kapitalistischen Gesellschaften benutzen, ausbeuten, wegdefinieren. Ein Buch wie ein Schlag ins Gesicht. Jedoch einer, den man gebraucht hat!

Und das Beeindruckende: Stefanoni macht das nicht aus der üblichen moralischen Vogelperspektive, nicht mit dem klassischen “Tierleid, Speciesism, bitte alle vegan werden”-Tonfall. Nein. Sie baut eine Systemanalyse, so kühl und brillant, dass man sich manchmal fühlt, als würde man in einen laufenden Motor schauen, von einem Auto, das wir seit Jahrhunderten fahren – aber nie verstanden haben.

Warum Speciesism allein nicht reicht

Wir alle kennen vermutlich die moralische Kritik, die seit 1975 praktisch im Kreis fährt: Viele Bücher über Tierethik starten bei der Moral – Stefanoni beginnt jedoch bei der Geschichte. Seit Peter Singer hat sich der Mainstream-Antispeziesismus darauf konzentriert, Tiere als Opfer irrationaler Vorurteile zu sehen. Speciesism als moralischer Fehler. Ein Bias. Eine Art kultureller Betriebsunfall.

Stefanoni zeigt jedoch sehr eindrucksvoll, warum dieser moralische Ansatz politisch nahezu wirkungslos blieb. Während Klima-Debatten, Nachhaltigkeitsrhetorik und “Animals are reclaiming the cities”-Pandemie-Narrative aufgepoppt sind wie schlechte Pop-Up-Banner, hat sich für Tiere real exakt gar nichts verbessert. Die Ausbeutung wurde im Grunde sogar noch um einiges massiver, unsichtbarer, “normaler”.

Ihre Diagnose: Die moralische Erklärung reicht nicht, weil sie völlig unverbunden bleibt mit den materiellen, strukturellen Gründen, warum moderne Gesellschaften überhaupt in diesem Ausmaß Tiere produzieren, verwerten, transformieren müssen. Eine moralische Debatte allein kann demnach die Maschinerie nicht stoppen, da die Maschine die Moral selbst überfährt. Im Grunde gilt das nicht nur für Tiere, sondern für alle anderen Bereiche auch. Das Moralische schafft es nicht wirklich, sich gegen die Struktur durchzusetzen.

Kapitalismus, Tiere und die große unsichtbare Struktur

Warum die Tierfrage eine Systemfrage ist? Stefanoni positioniert das Buch ganz bewusst in den Critical Animal Studies (CAS), also dort, wo Tierethik politisch wird. Und sie bringt einen zentralen Punkt mit einer Klarheit, die fast brutal ist: Wenn du Tiere befreien willst, musst du Kapitalismus verstehen! Und wenn du Kapitalismus verstehen willst, musst du begreifen, welchen Platz Tiere in seinem Produktionssystem einnehmen. Das klingt erstmal logisch und wie ein alter Hut. ABER selten hat es jemand so systematisch aufgezogen wie Stefanoni, die Tiere nicht als “Nebenopfer”, „ethisches Add-on” betrachtet, sondern als zentralen Bestandteil kapitalistischer Produktionslogiken: Fleisch, Leder, Arbeitstiere, Labor, symbolische Differenzierungsmarker. Ihre These daher: Tiere sind Bestandteil einer Form der Produktion von Individuen. Also eines gesellschaftlichen Grundbausteins, der gleichzeitig Menschen formt (Arbeitskraft, Reproduktion, Geschlechterrollen) und Tiere objektiviert. Das ist radikal – und überraschend einleuchtend.

Intersektionalität vs. Marxismus – und warum Stefanoni beide Ansätze aus der Sackgasse holt

Ein weiterer großer Verdienst des Buches ist, dass Stefanoni endlich ein Problem löst, das linke Theorie seit Jahrzehnten lähmt: Intersektionalität und Marxismus misstrauen einander – und brauchen einander trotzdem. Marxist*innen sagen: “Alles Kapitalismus. Alles Klasse. Alles Ökonomie.” Intersektionalität sagt: “Alles gleichzeitig. Alles verknüpft. Alles kulturell.” Beide Positionen werfen sich dabei gegenseitig Reduktionismus vor.

Stefanoni gelingt es, beide Logiken zusammenzubringen – nicht als Kompromiss, sondern als neue Ebene. Man merkt, wie viel sie aus der Neuen Marx-Lektüre herausholt: Kapitalismus wird hier nicht als “Wirtschaftssystem mit moralischen Problemen” verstanden, sondern als gesellschaftliche Totalform, die Subjektivität produziert, Macht organisiert, Lebensweisen definiert und Tiere systematisch in Waren verwandelt. Damit wird die Tierfrage weder zur moralischen Unterkategorie noch zum ökonomischen Nebeneffekt, sondern zur strukturellen Achse gesellschaftlicher Organisation. Das ist mutig. Und es funktioniert.

Das Herzstück: Die Anthropologische Form und der „hygienisierende“ Fleisch-Komplex

Richtig beeindruckend wird das Buch in seiner historischen Analyse. Stefanoni zeigt, wie im 19. Jahrhundert ein neues “Dispositiv der Ernährung” entstand – eine Machtstruktur, die: Tiere systematisch in Fleisch transformierte, Fleisch zur nationalen Normnahrung machte, den industrialisierten Schlachthof als Hygiene- und Fortschrittsversprechen ideologisch aufwertete und den Konsum von Tierkörpern in eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit verwandelte, die heute unsichtbar geworden ist

Das ist Foucault, Marx und Ecofeminismus – aber nicht als Zitatenschlacht, sondern als Analysewerkzeug. Eine geologische Schichtensicht auf den Kapitalismus. Und diese historische Nüchternheit tut weh. Die Beschreibungen der Schlachthäuser sind klar, sachlich – und gerade deshalb so verstörend. Die Gewalt ist nicht barbarisch, sondern bürokratisch. Das ist das eigentlich Beängstigende an der ganzen Sache.

Warum das Buch heute noch dringlicher ist als zu Beginn der 2020er

Stefanoni macht deutlich: Wir leben im Zeitalter der ökologischen Krisen, Mikrobenkrisen, Ernährungskrisen – und trotzdem wird Tierausbeutung immer weiter intensiviert. COVID-19 hätte ein Wendepunkt sein können. Stattdessen wurde die Fleischindustrie zum “kritischen Infrastruktur-Sektor” erklärt, anstatt auf Alternativen zu setzen. Ihr bitteres Fazit daher: Die Pandemie hat gezeigt, wie tief die Logik der Tierausbeutung verankert ist – und wie unfähig wir bisher sind, sie überhaupt sichtbar zu machen.

The Human and the Meat ist dabei kein moralisches Pamphlet. Kein Veggie-Manifest. Kein leichter Lesestoff für den Abendzug. Es ist ein theoretisches Fundament. Ein Vermessungsgerät der Gegenwart. Und ein Buch, das zeigt, dass Tierbefreiung keine Lifestyle-Entscheidung sein kann, sondern ein Kampf an der Nahtstelle zwischen Kapitalismus, Macht, Wissen und Subjektform ist.

Wichtig zu wissen: das Buch ist als Open Access im Volltext online abrufbar!


Titelbild© Transcrip Verlag