Wo das Ich zum Maß aller Dinge wird, stellt sich eine drängende Frage: Gibt es ein Denken jenseits des Ego-Zentrismus? Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien unternimmt in „Vom Sein zum Leben“ genau diesen Versuch – er hinterfragt die Grundlagen unseres westlich geprägten Selbstverständnisses und öffnet den Blick auf alternative Denkmuster.
Zwischen Narzissmus und Notwendigkeit
Donald Trump, Elon Musk, autoritäre Führer und narzisstische Influencer unterschiedlichster Couleur – sie alle scheinen nur die Symptome eines tieferliegenden Problems zu sein: eines Denkens, das das Ich ins Zentrum stellt, das Subjekt absolut setzt und die Welt nur noch als Bühne für persönliche Wirksamkeit versteht. Dieses westlich geprägte Selbstverständnis – das auf das antike Griechenland zurückgeht – hat sich über Jahrhunderte verfestigt. Mit all seinen Erfolgen, aber auch mit tiefen Verwerfungen. Doch wie lässt sich dieser festgefahrene Horizont überschreiten? Wie kann man jenseits der Egostrukturen denken und leben?
Das chinesische Denken als Resonanzraum
Eine faszinierende Antwort auf diese wichtige Frage liefert der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in seinem Buch „Vom Sein zum Leben“. Statt einer plakativen Kritik oder eines weiteren „Coaching-Ratgebers“ bietet Jullien vielmehr eine tiefgehende philosophische Alternative: den Blick von außen auf unser Denken. Über das chinesische Denken als Resonanzraum. Wobei dieses fern-östliche Denken dabei niemals zum Ideal verklärt wird.
Jenseits des Selbst: François Julliens Denkbewegung
„Vom Sein zum Leben“ ist das Ergebnis von Julliens jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie, Sprache und Weltwahrnehmung. Es ist kein Buch, das Antworten liefert – vielmehr legt es Denkspuren. In Form von Begriffspaaren wie zum Beispiel „Willen“ vs. „Beharrlichkeit“, „Kohärenz“ vs. „Sinn“ oder „Aufschwung“ vs. „Stillstand“ entfaltet Jullien die grundlegenden Differenzen zwischen westlichen und östlichen Denkstrukturen – ohne einfache Zuschreibungen.
Dabei geht es nicht darum, eine Kultur gegen die andere auszuspielen. Jullien sucht vielmehr das Dazwischen, eine dritte Position jenseits von Ost und West, von Subjekt und Objekt, von Logik und Mystik. Er nutzt die Differenz nicht als Trennlinie, sondern als Möglichkeit zur Reflexion. Gerade darin liegt die eigentliche Provokation: Nicht das (westliche) Ich muss gestärkt, sondern das (westliche) Denken durchlässiger werden.
François Jullien und das Leben jenseits des Seins
Was bedeutet es, vom „Sein“ zum „Leben“ zu kommen? Für Jullien ist das westliche Denken stark von der Vorstellung des fixierten, benennbaren Seins geprägt. Wir denken in Definitionen, in Identitäten, in Kategorien. Das chinesische Denken hingegen – zumindest in seiner klassischen Form – betont im Gegensatz dazu vielmehr das „Werden“, das „Prozesshafte“, das „Fließende“. Es interessiert sich nicht für das, was „ist“, sondern für das, was „wirksam wird“ – für das, was sich entfaltet, ohne sich festzulegen.
Diese Perspektive ist weit entfernt von unserer gewohnten Sprache des Ichs, des Willens, der Kontrolle. Stattdessen eröffnet sie einen Raum, in dem das Leben nicht kontrolliert, sondern begleitet wird. In Zeiten globaler Krisen, ökologischer Kipppunkte und gesellschaftlicher Spaltungen scheint diese Haltung radikal zeitgemäß – gerade weil sie so unspektakulär und undogmatisch daherkommt.
Vom Sein zum Leben: Kein Chinesisch für Anfänger
Man sollte „Vom Sein zum Leben“ auf gar keinen Fall nicht mit einem populärwissenschaftlichen Sachbuch verwechseln. Es ist kein Schnellkurs in fernöstlicher Lebenskunst und kein Ratgeber zur Persönlichkeitsentwicklung. Vielmehr fordert Jullien eine langsame Lektüre, geduldiges Denken und intellektuelle Redlichkeit. Seine Texte kreisen, vertiefen, öffnen – sie führen nicht linear zu einem Ziel, sondern lassen Leser*innen Teil eines Denkprozesses werden, der mehr Fragen als Antworten produziert. Doch ist es genau das, was uns schlussendlich dem Leben näher bringt.
Gerade darin liegt dieser unschätzbare Wert des Buches: Es gibt uns Lesenden Instrumente zur Selbstbefragung an die Hand, ohne moralischen Zeigefinger, ohne ideologische Rahmung. Dabei beweist „Vom Sein zum Leben“ vor allem, dass die westliche Vorstellung von Subjektivität, von Kontrolle, von Effizienz ist nicht alternativlos.
Vom Sein zum Leben: Eine Philosophie der Möglichkeit
François Julliens „Vom Sein zum Leben“ ist ein stilles, aber machtvolles Buch. Es bietet keinen schnellen Ausweg aus dem Narzissmus der Gegenwart, aber es öffnet einen anderen Horizont – einen, in dem das Leben nicht mehr als Projekt oder Besitz verstanden wird, sondern als Bewegung, Beziehung, Resonanz.
Für alle, die nicht mehr nur über die Krise des Selbst festgefahren nachdenken und endlos um sich selbst kreisen wollen, sondern andere Denkweisen ernsthaft erkunden wollen, ist dieses Buch eine geradezu fundamentale Einladung. Jullien gibt keine Antworten – aber er zeigt, dass es eine Welt jenseits des Ego-Zentrismus geben kann. Und das ist, angesichts der globalen Lage, vielleicht wichtiger denn je.
Titelbild © Matthes & Seitz Berlin