Zwischen Chaos und Erkenntnis: Slavoj Žižeks „Paradoxien der Mehrlust“

Slavoj Žižek Paradoxien der Mehrlust

Denken am Rand der Ordnung: Wenn Slavoj Žižek ein neues Buch veröffentlicht, weiß man nie genau, was einen erwartet – außer: dass es intensiv wird. In „Paradoxien der Mehrlust“ liefert der slowenische Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker ein Werk ab, das seinem Ruf als intellektueller Agent provocateur mehr als gerecht wird.

Paradoxien der Mehrlust: Einleitung ole!

Bereits in der Einleitung warnt Žižek seine Leser*innen vor dem, was kommt: kein klar strukturiertes Argument, sondern eine wilde, bewusst chaotische Reise durch Theorie, Popkultur, Psychoanalyse, Politik und Philosophie – alles natürlich unter der Schirmherschafft eines Hegelschen Weltbildes. Und genau das bekommt man – auf höchst unterhaltsame und intellektuell stimulierende Weise.

Das Prinzip der Mehrlust: Von Lacan zu Disney

Der Titel verweist auf ein zentrales Konzept aus der Lacanschen Psychoanalyse: la jouissance, das schwer übersetzbare Phänomen der „Mehrlust“ – eines überschießenden, paradoxen Genusses, der über das Lustprinzip hinausgeht. Žižek nimmt dieses Konzept zum Anlass, um seine Überlegungen über das Begehren, die Macht, den Kapitalismus und das Subjekt unserer Zeit zu entfalten.

Dabei springt er wie gewohnt virtuos von Lacan zu Hegel, von Marx zu Hollywood, von Wagner zu TikTok. Wer Žižek kennt, weiß, dass das kein bloßes Namedropping ist: Jeder Verweis dient einer Idee, jeder Popkulturbezug ist ein Hebel zur Analyse der Gegenwart. Und doch: Die Ordnung dieses Denkens ist nicht linear, sondern eher assoziativ, überraschend und oft bewusst überfordernd.

Slavoj Žižek: Ein literarischer Stream of Consciousness

Paradoxien der Mehrlust“ von Slavoj Žižek liest sich wie ein wissenschaftlicher Stream of Consciousness – ein Fluss von Gedanken, der sich weniger um argumentative Sauberkeit als um philosophische Neugier und analytischen Witz bemüht. Das macht das Buch schwer fassbar, aber gerade deshalb ungewöhnlich fruchtbar.

In dieser bewusst unklaren Form entfaltet sich ein Denken, das gerade im Spiel mit der Unordnung produktiv wird. Žižeks Stärke liegt darin, vermeintlich bekannte Zusammenhänge radikal neu zu verknüpfen – mit Denkfiguren, die oft nur einen Absatz lang auftauchen, aber dafür mit überraschender Schärfe blitzen.

Verwirrung mit System: Orientierung im intellektuellen Sturm

Man kann diesem Buch stellenweise eine gewisse Verwirrung nicht absprechen – doch es ist eine konstruktive Verwirrung. Wer sich darauf einlässt, erkennt schnell, dass Žižeks Denkweise nicht diffus, sondern dialektisch ist: Jeder Widerspruch, jede Abzweigung ist ein Versuch, die Komplexität unserer Zeit sichtbar zu machen, ohne sie zu glätten.

Dabei gelingt es Žižek, trotz der scheinbaren Abschweifungen, konkrete Erkenntnisse über den Zustand unserer Welt zu vermitteln: über die psychologische Struktur des neoliberalen Subjekts, die Logik von Fake News, die Ambivalenz moderner Freiheitsversprechen – und über unsere tief verinnerlichte, oft unbewusste Beteiligung am System, das wir eigentlich kritisieren.

Ein Buch wie Žižeks Denken – chaotisch, klug, befreiend

Slavoj Žižek enttäuscht in „Paradoxien der Mehrlust“ keineswegs – zumindest nicht diejenigen, die seine Arbeitsweise kennen: Er warnt zu Beginn vor einem unkonventionellen, sprunghaften Zugang – und liefert genau das. Dieses Buch ist keine strukturierte Abhandlung, sondern vielmehr eine spielerische, manchmal explosive Montage von Ideen, die sich dem Leser nicht als fertige Wahrheit aufdrängt, sondern als Denkraum anbietet.

„Paradoxien der Mehrlust“ ist ein Lesegenuss für alle, die Lust am Denken haben – und verstehen wollen, warum die Welt so widersprüchlich ist, wie sie ist. Für eingefleischte Žižek-Fans bietet es einen Mehrgenuss an Assoziationen und intellektuellen Querschlägen. Für Neulinge enthält es kluge Einstiege und scharfsinnige Impulse, um Žižeks Denken kennenzulernen – und die Welt durch seine dialektische Brille neu zu sehen. Verwirrung mag zwischendurch spürbar sein – doch am Ende bleibt man alles andere als verwirrt zurück: vielmehr herausgefordert, inspiriert – und ein gutes Stück wacher.

Als Kapitalismuskritik auch zu empfehlen ist übrigens das Neue Buch von Douglas Rushkoff: Survival of the Richest.


Titelbild © S. Fischer Verlag