Man wird alle Krimis und Thriller, die man bisher gelesen hat, hinter sich lassen. Denn der französische Ausnahmeautor Laurent Mauvignier hebt mit seinem neuen Buch Geschichten der Nacht ein ganzes Genre auf das nächste Level und schreibt die Regeln neu. Absolut lesenswert!
Die Bombe unter dem Tisch
Im Gespräch zwischen dem legendären Regisseur Alfred Hitchcock und dem nicht minder genialen Nouvelle Vague-Regisseur François Truffaut wird an einer Stelle der Begriff Suspence erklärt. Der Rest ist nicht nur Filmgeschichte, sondern eine Revolution für die Erzähltechnik.
Der Begriff Suspense bezieht sich dabei auf eine ganz spezielle Erzähltechnik, die in Filmen, Theaterstücken, aber auch in der Literatur angewendet wird, um Spannung zu erzeugen. Dabei wird der Nervenkitzel gerade dadurch erzeugt, dass die Zusehenden über ein bevorstehendes Ereignis informiert sind – im Gegensatz zum oft ahnungslosen Protagonisten –, bevor dieses tatsächlich eintritt.
Ein klassisches Beispiel hierfür wäre die Bombe unter einem Tisch, die, unbemerkt von der Hauptfigur, vor sich hin tickt, während die Zusehenden jedoch Bescheid wissen. Würde die Bombe einfach so explodieren, dann wäre das zwar ein gelungener Überraschungseffekt. Doch die Spannung würde so auf der Strecke bleiben.
© Matthes & Seitz Berlin
Laurent Mauvignier: Geschichten der Nacht
Und Spannung ist alles, was das neue Buch Geschichten der Nacht von Laurent Mauvignier verkörpert. Und das, obwohl die Figuren viel mehr wissen, als die Lesenden, die so sehr im Dunkeln tappen, wie man nur im Dunkeln tappen kann. Dabei muss man sagen, dass von Protagonist*innen vermutlich noch nie so wenig preisgegeben worden ist, wie in diesem Buch bzw. wurden die Informationen wohl nur selten in so tröpfelnd kleinen Dosen verteilt wie hier.
Dennoch ist Geschichten der Nacht von Laurent Mauvignier ein geradezu nervenzerreißendes Buch. Und das auf einem Level, das seinesgleichen sucht. Was Thriller-Virtuosen wie zum Beispiel Jo Nesbø vermutlich in einem Absatz runtertippen, dafür lässt sich der französische Ausnahmeautor über 500 Seiten lang Zeit.
Das Viele im Wenigen und langen Warten
Das Buch Geschichten der Nacht ist ungewöhnlich, weil selten so wenig, aber dennoch auch so unendlich viel passiert. Und jede Verzögerung, die der Autor einbaut, den Lesenden nur umso gespannter werden lässt, worum es denn nun genau geht.
Denn in diesem Buch geht es erst ab der Hälfte mit dem Los, worauf die erste Seite schon hinsteuert. Nur um den Lesenden dann immer noch, Kapitel um Kapitel, bis zur finalen Auflösung warten zu lassen. Es ist dieses Warten, dass einen innerlich geradezu zerfrisst – weil man in der heutigen Zeit natürlich gewohnt ist, nie lange auf etwas warten zu müssen.
Laurent Mauvignier: Geschichten der Nacht
Man kann es gar nicht richtig fassen, was der Autor hier mit uns Lesenden so tut und ihnen auch antut. Er spannt uns auf die Folter, wie uns vermutlich noch niemand zuvor in der Literatur auf die Folter gespannt hat.
Klar fragt man sich bei Agatha Christie und Co ebenfalls, wie das Verbrechen genau gemacht worden ist, wer der Mörder oder die Mörderin ist und so weiter. Doch anders. Laurent Mauvignier streut keine falschen Spuren, die in die Irre führen und ablenken. Er geht direkt Richtung Auflösung. Doch tut er dies geradezu meditativ und verlangsamt und erinnert dabei an das „Ausgehen“ einer Zen-Meditation.
Laurent Mauvignier und die Kunst extremer Langsamkeit
Geschichten der Nacht ist dabei der wohl psychologischste Thriller in der Literaturgeschichte. Warum? Weil er es schafft, das Banalste vom Banalen auf eine derart spannende Weise zu erzählen, dass man aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommt.
Man liest und liest und liest und wundert sich so oft, warum einem eigentlich nicht langweilig ist, denn die Handlung geht extrem langsam voran. Und trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb, aufgrund dieser Langsamkeit eben, erzeugt Laurent Mauvignier eine Spannung, die vermutlich noch niemals so gelesen worden ist.
Geschichten der Naht: ein Fazit
Geschichten der Nacht von Laurent Mauvignier ist ein extrem beeindruckender Roman. Sprachgewaltig durchdringt er die Komplexität der verschiedenen Lebensabschnitte der Figuren, vermischt diese und taucht tief. Taucht ein, nicht nur in die persönlichen Lebensgeschichten der Protagonist*innen, sondern auch in die vielschichtigen Schattseiten der Vergangenheiten. Mit präziser Beobachtungsgabe hält er die Spannung, von der ersten Seite an, auf höchstem Niveau.
Bei aller Liebe für die klassischen Thriller Autoren ist Geschichten der Nacht ein Buch, das jeder Genre-Fan mindestens einmal gelesen haben sollte. Eine Pflichtlektüre, die den Genre-Horizont erweitert und uns den Thriller und den Krimi neu entdecken lässt.
Ein anderes Buch, das zwar kein Thriller ist, aber literarisch extrem spannende Pfade beschreitet ist Zitronen von Valierie Fritsch. Ein Meisterwerk, das man wie Geschichten der Nacht gelesen haben sollte.
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